Prof. Dr. Jan U. Hagen

Fatale Fehler – was Unternehmer von Piloten lernen können

Organisationen müssen mit vielfältigen Fehlerquellen leben, die bei ungünstiger Konstellation auch katastrophale Auswirkungen haben können. Damit Fehler erkannt und ihre Ursachen beseitigt werden können, muss die Fehleranalyse rational und analytisch geführt werden. Der offene Umgang mit Fehlern ist in den meisten Organisationen jedoch noch nicht selbstverständlich. Dazu bedarf es einer Kultur der Fehlerakzeptanz. Ein Blick in die Cockpits der Verkehrsflugzeuge zeigt, dass Piloten dazu seit Jahren einem Konzept folgen, von dem auch andere Organisationen lernen können.

Aus Fehlern lernen

In einer Befragung von mehr als 300 europäischen Führungskräften durch die ESMT Berlin gaben fast alle Teilnehmer an, Fehler seien für sie etwas ganz Normales, und dass sie die Fehler anderer im Unternehmen ohne Weiteres ansprechen, auch wenn sie von Vorgesetzten gemacht wurden. Allerdings wurden die Fehler, trotz ihrer angeblichen Normalität, von 88 % der Befragten ausschließlich unter vier Augen angesprochen. Interessanterweise dachten jedoch nur 54 %, dass sie selbst unter vier Augen auf ihre Fehler hingewiesen werden. Neunzehn Prozent waren der Ansicht, dass ihre Fehler ausnahmslos vor einem Kreis von Mitarbeitern und Kollegen erwähnt würden. Wir vermuten, dass die Befragten auf die offene Diskussion ihrer eigenen Fehler mit der üblichen Verlegenheit reagiert haben und sich dieses Gefühl im Gedächtnis verankert hat, sehr viel mehr als die Diskussion über die Fehler anderer.

Noch interessanter ist allerdings, dass die „offene“ Diskussion von Fehlern mit Gesprächen unter vier Augen gleichgesetzt wurde, obwohl ein noch kleinerer geschlossener Kreis als Gesprächsrahmen kaum vorstellbar ist. Warum aber suchen Vorgesetzte und Mitarbeiter das vertrauliche Gespräch? Weil wir Fehler seit Kindheitstagen als etwas Beschämendes begreifen und sie deshalb nicht öffentlich bekanntgeben wollen.

Aus Sicht der Organisation enthält diese Einstellung den gravierenden Nachteil, dass es auf diese Weise nicht möglich wird, aus Fehlern zu lernen. Amy Edmondson von der Harvard Business School hat in ihrer Forschung gezeigt, dass Mitarbeiter nur dann bereit sind, negative Ereignisse oder Entwicklungen offen zu bekennen, wenn sie sicher sein können, dass weder sie noch ihre Kollegen bestraft werden. Als Voraussetzung dazu nennt sie eine Unternehmenskultur, die psychologische Sicherheit bietet. Ich bezeichne das als Grundvoraussetzung, die jedoch nicht ausreicht, um eine Kultur einzurichten, in der Fehler prinzipiell anders gelten – nämlich als selbstverständliches Geschehen, für das sich niemand schämen muss.

Solange das nicht der Fall ist, wird es immer wieder Gründe geben, warum Mitarbeiter selbst bei psychologischer Sicherheit lieber schweigen, statt einen Fehler zuzugeben oder zu melden.

In ausgeprägten Hierarchien können wir beobachten, dass Mitarbeiter nicht nur aus Angst vor der höheren Autorität schweigen, sondern auch aus Unsicherheit. Mit der hohen hierarchischen Position wird häufig sowohl Weisungs- als auch Fachkompetenz verbunden. Es ist also vorstellbar, dass Mitarbeiter einen Fehler ihres Vorgesetzten entdecken, ohne genau zu wissen, ob es tatsächlich ein Fehler ist oder nicht vielleicht etwas, das so sein soll. Und dass sie fälschlicherweise nicht nachfragen, weil sie Angst haben, sich zu blamieren.

Vorbild Luftfahrt

In der Luftfahrt begannen die US Federal Aviation Administration (FAA) und das National Transportation Safety Board (NTSB) Ende der 1970er-Jahre nach mehreren spektakulären Unfällen, den Einfluss von menschlichem Versagen bei Unfällen zu analysieren. Diese Untersuchungen zeigten nicht nur, dass Fehler der Besatzungen für mehr als zwei Drittel aller Unfälle ursächlich waren. Sie zeigten auch, dass bei über 80 % der Flugunfälle der Kapitän der fliegende Pilot gewesen war. Diese Erkenntnis war ein Schock. Der Kapitän war – und ist – im Cockpit der erfahrenere Pilot. Wie sich herausstellte, lag die Crux aber keineswegs in höherem oder niedrigerem Wissensstand, sondern hing mit dem hierarchischen Gefälle zwischen den Kapitänen und den anderen Crewmitgliedern im Cockpit zusammen: Die Flugkapitäne hatten die Fehler oder Fehlentscheidungen ihrer Copiloten stets ohne Weiteres korrigiert; umgekehrt war es ungleich schwieriger, wenn nicht unmöglich, gewesen.

Daraus könnte man schließen, dass dann eben die Hierarchie im Cockpit abgeschafft werden müsse. Das ist jedoch weder für die Luftfahrt noch eine andere komplexe Organisation die Alternative. Umfangreiche, koordinierte Abläufe, wie sie in großen Konzernen an der Tagesordnung sind, wären ohne klare Arbeitsteilungen, Verantwortlichkeiten und Hierarchien nicht durchführbar.

In der Luftfahrt führten die Ergebnisse der FAA, NASA und NTSB zu einem Konzept, das die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch im Cockpit unabhängig von der hierarchischen Position ermöglichte. Unter Führung der genannten Behörden, einiger Universitäten, zahlreicher Fluggesellschaften und der US-Luftwaffe wurde Anfang der 1980er-Jahre das Crew Resource Management (CRM) entwickelt. Es sah und sieht vor, den Flugzeugbesatzungen nicht mehr allein die fliegerischen Fähigkeiten, sondern auch Soft Skills wie Kommunikation und moderne Führungsmethoden zu vermitteln. Wie zu erwarten, waren insbesondere die Kapitäne zunächst alles andere als begeistert; sie sahen das CRM als Bedrohung ihrer Autorität und Entscheidungsmacht, das Verhaltenstraining als Übergriff und dessen Inhalt als „Psychogeschwätz“. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sie das CRM akzeptierten und die Vorteile der offenen Kommunikation im Cockpit als Erleichterung ihrer Arbeit erkannten. Die erfolgreiche Anwendung des CRM trug ebenfalls dazu bei: Innerhalb von zwanzig Jahren hatte sich die Anzahl der Zwischenfälle aufgrund menschlichen Versagens in den USA von über 70 auf unter 30 % verringert.

Offene Kommunikation

An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit das CRM sich in den Unternehmensalltag integrieren lässt. Die Luftfahrt ist schließlich ein Hochrisikobereich, bei dem alle Beteiligten wissen, wie verheerend die Folgen von Fehlern sein können. Im Gegensatz dazu kommen Manager nicht jeden Tag mit dem Wissen zur Arbeit, dass sie für die körperliche Sicherheit Hunderter verantwortlich sind. Allerdings sind sie u.a. für ihre Geschäftsprozesse verantwortlich, den Erfolg ihrer Abteilung, die Arbeitsplatzsicherheit ihrer Mitarbeiter, ebenso für die Reputation und den Wert ihres Unternehmens, siehe Volkswagen. Folglich sollten auch sie ihre Irrtümer und Fehlerzahl niedrig halten.

Die offene Kommunikation über Fehler ist demnach für jede Organisation relevant, denn nur so kann man aus ihnen lernen. Die ersten Schritte dazu wurden in vielen Unternehmen schon mit den Qualitätsmanagementprogrammen gemacht. Dennoch gibt es einen zentralen Unterschied zwischen diesen herkömmlichen Ansätzen zur Vermeidung von Fehlern und dem modernen, in der Luftfahrt praktizierten Fehlermanagement: Im Unternehmens-alltag werden Fehler immer noch als Schwächen gesehen und stigmatisiert, wohingegen sie im modernen Fehlermanagement ein unvermeidbarer Fakt menschlichen Verhaltens sind. Zwar versuchen die Anhänger beider Methoden, Fehler zu vermeiden, doch das Qualitätsmanagement stellt sie in ein negatives Licht und verbindet sie mit Scham und Angst vor der Sanktion. Im modernen Fehlermanagement hingegen steht, neben der sachlichen Haltung den Fehlern gegenüber, die Transparenz im Vordergrund. Im Idealfall werden Fehler identifiziert, korrigiert, analysiert und ihre Ursachen ausgeräumt, sodass sie sich nicht wiederholen.

Moderne Fehlerkultur

Wie also kann die moderne, offene Fehlerkultur in Unternehmen umgesetzt werden? Die Luftfahrtindustrie hat den Weg geebnet und gezeigt, dass es möglich ist. Einige grundsätzliche Voraussetzungen müssen allerdings erfüllt werden:

Die innere Einstellung, die besagt, dass Fehler Teil menschlichen Handelns sind und sich auch bei größter Sorgfalt nicht vermeiden lassen. Das gilt für sämtliche Bereiche und Personen, einschließlich der Führungsebene. Wichtiger als die vergeblichen Versuche, nie einen Fehler zu machen, sind die rechtzeitige Korrektur und die Fähigkeit, mit Fehlern konstruktiv umzugehen

Sanktionsfreiheit: Fehler dürfen nicht sanktioniert werden. Angst vor Gesichtsverlust und Strafe führen dazu, dass Fehler vertuscht werden

Walk the talk: Das offene, sanktionsfreie Prinzip muss top-down vorgelebt werden. Nur so werden Kollegen und Mitarbeiter die eigenen Fehler und die der anderen horizontal wie vertikal melden, ohne das Gefühl zu haben, sie denunzieren jemanden oder reden sich um Kopf und Kragen

Kommunikation: Die Fehlerkommunikation beruht auf Fakten und findet auf sachliche Weise statt

Cross oder reality check: Situationen können unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Ähnlich wie Kapitän und Copilot die Anzeigen ihrer Instrumente und – noch wichtiger – ihre Interpretationen dieser Angaben vergleichen, sollten auch Manager, ganz gleich auf welcher Ebene, ihre Daten und die Ableitungen daraus von Kollegen und Mitarbeitern prüfen lassen

Reflexion: Um aus Fehlern zu lernen, müssen die Fehlerursachen gesucht und analysiert werden. In der Luftfahrt findet diese Analyse im Rahmen regelmäßiger Debriefings statt, die jeweils am Ende eines gemeinsamen Flugtags von den Besatzungen durchgeführt werden. Ähnlich regelmäßige Termine zur Fehlerbesprechung müssen in Unternehmen/Teams festgesetzt werden

Schulung: Die Erfahrung aus der Luftfahrt zeigt, dass die Umsetzung des CRM-Konzepts nicht von heute auf morgen gelingt. Radikale Change-Konzepte nützen hier nichts; vorgelebte Überzeugungsarbeit gepaart mit regelmäßiger – sprich, mindestens einmal jährlicher – eintägiger Schulung der Fehlermanagement-Prinzipien sind besser geeignet

Reporting: Um Fehlerquellen zu reduzieren, empfiehlt es sich, Fehlerfälle in einer Sammlung aufzunehmen und allen im Unternehmen zugänglich zu machen

Das, was alle lernen müssen, ist, Fehler ruhig und offen anzusagen. Mit der Zeit wird es jedem leichter fallen, erst recht dann, wenn die Kriterien des modernen Fehlermanagements verinnerlicht worden sind und jeder verstanden hat, dass es dabei nie darum geht, einem anderen zu zeigen, wie unrecht er und wie recht man selbst hat. Dann wird es selbst in einem großen Konzern wie Volkswagen möglich sein, den Vorstand über eine gesetzeswidrige Motoreneinstellung zu informieren. Es gäbe ihm die Sicherheit, über sämtliche kritische Informationen im Bild zu sein – ob sie ihm gefallen oder nicht.

ESMT Berlin
https://faculty-research.esmt.berlin/person/jan-u-hagen

References/Literatur
[1] Edmondson, A. C. (1999): Psychological safety and learning behavior in work teams. Administrative Science Quarterly 44 (2), pp. 350-383
[2] Edmondson, A. C. (2018): The fearless organization: Creating psychological safety in the workplace for learning, innovation, and growth. Hoboken, NJ: Wiley
[3] Hagen, J. U. (2017): Fatale Fehler: Oder warum Organisationen ein Fehlermanagement brauchen. Berlin: Springer
[4] Hagen, J. U.; Lei, Z. (2012): Am liebsten unter vier Augen. Harvard Business Manager, 6, S. 8-11
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